Ambulant vor stationär : Häusliche Pflege: zwischen Anspruch und Wirklichkeit?

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Ein Großteil der Pflegebedürftigen wird von Angehörigen betreut. Bild: Robert Kneschke | Fotolia.com

In der letzten Legislaturperiode wurden drei Pflegereformen – Pflegestärkungsgesetze I-III – verabschiedet. In diesem Zuge fließen zusätzlich mehr als 6 Milliarden jährlich in die Pflegeversicherung.

Nachdem im Jahr 2010 der damalige Minister Philipp Rösler das Jahr der Pflege für das Jahr 2011 ausrief, jedoch nach Meinung von Experten relativ wenig passiert ist, hat die letzte Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode drei Pflegereformen im deutschen Bundestag verabschiedet. Finanziert durch eine Beitragssteigerung von 0,5 %. fließen ca. 6 Milliarden EUR zusätzlich in die Kassen.

Mehr Geld = bessere Versorgung der Pflegebedürftigen?

Prinzipiell sind die höhere Finanzausstattung der Pflegeversicherung und die Dynamisierung der Sachleistungsbeträge und Pflegegelder in den neuerdings sogenannten Pflegegraden zu begrüßen. Pflegende Angehörige bekommen höhere Pflegegelder ausgezahlt bzw. es besteht die Möglichkeit mehr Leistungen bei professionellen Pflegeanbietern wie ambulanten Pflegediensten und Tagespflegen in Anspruch zu nehmen.

Es lohnt sich jedoch genauer hinzuschauen. Die gesetzliche Pflegeversicherung hat bereits in den Jahren vor den Pflegereformen 600 Millionen EUR mehr eingenommen als ausgegeben. Die Reserven sind mit den Überschüssen der vergangenen Jahre auf über 6 Milliarden EUR angewachsen. Ist die Pflegeversicherung durch die weiteren zusätzlichen Mittel überfinanziert?

Die Überschüsse der Vergangenheit zeigten, dass die bereitgestellten Mittel nicht vollständig abgerufen worden sind. Das legte den Schluss nahe, dass die bereitgestellten Zuschüsse der Pflegeversicherung, welche weiter aufgestockt worden sind, nicht vollständig bei den Pflegebedürftigen ankommen sind. Nach neusten Einschätzungen des Spitzenverbandes der Krankenkassen im August 2017 werden diese Reserven jedoch zunehmend abgeschmolzen, da im Zuge des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs deutlich mehr Menschen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung haben. Nach ersten Einschätzungen gelten neuerdings zusätzlich ca. 200.000 Menschen als Leistungsberechtigte. Kann man also von einem großen Erfolg sprechen? Eine abschließende Antwort wird die Zukunft zeigen. In diesem Artikel wird ein Überblick gegeben, was die häusliche Pflege leisten kann und welche Grenzen ihr gesetzt sind. Ferner wird kritisch der Frage nachgegangen, welche Herausforderungen bislang ungelöst bleiben.

Pflegeversicherung ist kompliziert und für den Laien (oft) unverständlich.  

Daran haben auch die letzten Reformen nichts geändert. Unter Einbeziehung des Pflegeneuausrichtungsgesetzes im Jahr 2012 und den Pflegestärkungsgesetzen I-III ist die Pflegeversicherung in den letzten Jahren permanent verändert worden. Im Ergebnis ist die Organisation der Pflege kompliziert und teilweise bürokratisch. Selbst Experten, die sich tagtäglich damit beschäftigen, haben Probleme, einen Überblick über alle Leistungsansprüche zu behalten. Viele Pflegebedürftige und Angehörige fragen sich: Was trifft auf uns zu und wer finanziert was? Ein Blick in das Gesetz ruft bei vielen Beteiligten nur noch Fragezeichen im Kopf hervor.

Wunsch so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu wohnen

Der „größte Pflegedienst“ in Deutschland ist nach wie vor der pflegende Angehörige.  Schätzungsweise 1,2 Millionen Pflegebedürftige werden durch Angehörige gepflegt. Weitere ca. 600.000 Pflegebedürftige haben für die Versorgung zu Hause die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch genommen.

In diesen Statistiken spiegelt sich der Wunsch vieler Menschen in Deutschland wider, im Falle der Pflegebedürftigkeit, so lange wie möglich in den gewohnten eigenen vier Wänden gepflegt, betreut und umsorgt zu werden. Diesen Wunsch hat auch der Gesetzgeber erkannt und das Credo „ambulant vor stationär“ für die Pflege ausgerufen. Die wenigsten wissen jedoch, was in diesem Bereich möglich ist.

Auswahl von Leistungen der ambulanten Pflege

Aufgrund der Vielzahl von Leistungen im SGB XI wird bewusst nur eine Auswahl von Leistungen vorgestellt, welche oftmals unbekannt sind, aber maßgeblich zum längeren Verbleib in der eigenen Häuslichkeit und damit verbundenen Geborgenheit und Lebensqualität beitragen können. „Verzichten Sie nicht auf die kompetente Beratung eines Pflegedienstes vor Ort“, so M. Behrens, Pflegedienstleistung der APO CARE Nordharz GmbH. Prinzipiell steht jedem Pflegebedürftigen je nach Pflegegrad Pflegegeld und/oder Pflegesachleistungen über die Pflegeversicherung zu. Diese Beträge im Zuge der Überleitung von Pflegestufen in Pflegegrade massiv gesteigert worden. So erhält ein Pflegebedürftiger, der bereits vor der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eine anerkannte Pflegestufe I mit eingeschränkter Alltagskompetenz (z.B. Einschränkungen durch Demenz) hatte, Pflegesachleistungen anstatt in Höhe von 689 EUR/Monat in Höhe von 1.298 EUR/Monat.

In der folgenden Tabelle sind die Erhöhungen dargestellt:

Es deutlich zu sehen, dass die meisten Pflegebedürftigen unter finanziellen Gesichtspunkten profitiert haben. Ferner stehen zusätzlich diese Leistungsansprüche in gleicher Höhe nochmal in der Tagespflege zur Verfügung. In Summe stehen nur bei diesen beiden Leistungsansprüchen zur Versorgung im häuslichen Umfeld in Kombination mit einer Tagespflege oftmals mehr finanzielle Ansprüche zur Verfügung als in einer stationären Pflegeeinrichtung (z.B. Pflegegrad 2: 770 EUR über die Pflegekasse). Auf die Tagespflege selbst wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen. Sie hat das Ziel der stundenweisen Entlastung von pflegenden Angehörigen und der sozialen Teilhabe von Pflegebedürftigen. Es sei jedoch angemerkt, dass die Leistungsansprüche in den höheren Pflegegraden aufgrund „niedriger“ Pflegesätze nicht vollständig ausgeschöpft werden können. Es können theoretisch mehr Besuchstage refinanziert werden als die Monate Tage haben.

Wie eingangs erwähnt, wird die Mehrheit der Pflegebedürftigen von Angehörigen gepflegt und betreut. Dies erfolgt teilweise bis zur persönlichen körperlichen und mentalen Überforderung und Erschöpfung.  Hier bietet die Pflegeversicherung als Entlastung die sogenannte Verhinderungspflege an.

Der Anspruch auf Verhinderungspflege ist bereits dadurch erfüllt, dass eine Pflegeperson z.B. hauswirtschaftliche Leistungen, Betreuungsleistungen, grundpflegerische Leistungen (Anziehen, Waschen, beim Essen helfen) sowie jegliche Hilfestellungen im täglichen Leben (Einkaufen, Spaziergänge, Behördengänge usw.) erledigt. Diese Pflegeperson wird durch einen professionellen Anbieter vertreten. Hier sind monatliche Leistungen bis 201,50 EUR im Monat möglich. Bei stundenweiser Verhinderungspflege (unter acht Stunden am Tag) wird auch das eventuelle Pflegegeld nicht gekürzt. Diese Leistung ist vielen unbekannt und wird nur im einstelligen Prozentbereich von den Anspruchsberechtigten genutzt.

Des Weiteren übernimmt die Pflegekasse anteilig Umbaumaßnahmen in der Wohnung. Hierzu zählen auch technische Hilfen, welche im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht, erheblich erleichtert oder eine möglichst selbstständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederherstellt.

Leistungsansprüche, Inanspruchnahme und Herausforderungen in der (häuslichen) Pflege:

Auf den ersten Blick ist die häusliche Pflege der große Profiteur der letzten Pflegereformen. Es stehen erhebliche Budgets für Unterstützungsleistungen im Bereich Pflege, Hauswirtschaft und Betreuung zur Verfügung. Dem Wunsch im Falle einer Pflegedürftigkeit so lange wie möglich zuhause gepflegt und betreut zu werden („ambulant vor stationär“), wurde durch letzten Reformen gestärkt. Durch beschriebene Kombination von Pflegesachleistungen, Tagespflege, Verhinderungspflege und den zusätzlichen Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen (125 EUR/Monat) stehen einem Pflegebedürftigen im häuslichen Umfeld mehr Zuschüsse der Pflegeversicherung zur Verfügung als bei einem stationären Aufenthalt (z.B. Pflegegrad 3: stationär 1.262 EUR/Monat; ambulant: 2.904,50 EUR). Hinzu kommt, dass im ambulanten Pflegesektor Behandlungspflegen (z.B. Injektionen) die Krankenkasse trägt, jedoch in einer stationären Einrichtung es den Kostenträger Krankenkasse nicht gibt.

Nichtsdestotrotz ist die Versorgung der Pflegebedürftigen nur zuhause illusorisch. Im Fall von schwerer Demenz und schwerwiegenden Krankheiten, die eine 24-Stunden-Betreuung erforderlich machen, kann die Pflege zuhause nicht sichergestellt werden bzw. ist sie für die meisten Menschen finanziell nicht darstellbar. Auch die hohen Zuschüsse reichen nicht aus, da hier finanzielle Belastungen in fünfstelliger Höhe pro Monat zu tragen sind. Des Weiteren ist die häusliche Pflege sehr personalintensiv. In der Regel handelt es sich um eine 1:1-Versorgung.

Die öffentliche Diskussion um den Pflege(fach)kräftemangel zeigt, dass bereits heute die Nachfrage nach Pflegeleistungen größer als das Angebot ist. Vor diesem Hintergrund und der demografischen Entwicklung besteht die große Herausforderung darin, dass die Leistungsansprüche nicht zu „Leerversprechen“ werden, da die Pflegedienste diese Ansprüche personell nicht erfüllen können.  Viele Pflegeexperten sprechen sich dafür aus, dass die nächste Reform darauf ihr Hauptaugenmerk legen sollte. Hierbei sind Maßnahmen wie eine noch stärkere Ausbildung von Pflegefachkräften zu nennen. Als weiteres ist die Gewinnung von ausländischen Pflegefachkräften, aber auch von ausländischen Auszubildenden angezeigt. Neben der Pflege suchen auch andere Branchen wie z.B. das Handwerk intensiv nach Auszubildenden. „Die Anerkennung der Pflegefachkräfte muss leichter und unbürokratischer werden“, spricht M. Behrens, Pflegedienstleitung der APO CARE Nordharz GmbH aus eigener Erfahrung. Wie spannend der Pflegeberuf sein kann, zeigt sich schon heute dadurch, dass zahlreiche Leistungen vom Arztes an den Pflegedienst delegiert werden.

Zu guter Letzt ist die Frage der Preisgestaltung bzw. Vergütung zu beantworten. Pflege erfordert vielfältige Kompetenzen in pflegerischer, medizinischer und sozialer Hinsicht, die nicht zum „Nulltarif“ zu haben sind. Das heißt ehrlicherweise auch, dass Pflege auch für den Pflegebedürftigen teurer werden wird.