Ein Interview mit Anna-Lena Hinck, EL : Nimmst Du mich in den Arm?

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Sexualität im Alter © KATHRINENHOF

ANNA-LENA HINCK IST EINRICHTUNGSLEITERIN IM KATHARINENHOF AM SCHWARZEN BERG. MIT IHR MÖCHTEN WIR ÜBER DAS BEDÜRFNIS NACH BERÜHRUNG IM ALTER UND BESONDERS IM PFLEGEHEIM SPRECHEN. WELCHE ERFAHRUNG MACHST DU?

Anna-Lena: Zärtlichkeit, Erotik, Sinnlichkeit, intime Berührungen, Streicheln, Fühlen und Sexualität – der Wunsch nach Körperkontakt hört niemals auf. Aber in unserer Gesellschaft ist Intimität oft mit Scham und Tabu belegt. Gleichzeitig wird sie älteren Menschen abgesprochen. Erstrecht im Pflegeheim, wenn körperliche und psychische Krankheiten hinzukommen. Dabei ist selbst bei multimorbiden, schwerkranken und sogar sterbenden Menschen das Bedürfnis nach Berührung und sogar nach Sexualität noch vorhanden.

BERÜHREN UND BERÜHRT WERDEN IST EIN GRUNDBEDÜRFNIS, EGAL WIE ALT MAN IST.

Anna-Lena: Ganz genau, darum ist entscheidend, wie der Wunsch nach mehr Körperkontakt, Liebe, Lust und Leidenschaft auch im Pflegeheim gelebt werden kann. Denn mit zunehmendem Alter nimmt der Wunsch nicht ab, manchmal verstärkt er sich sogar oder lebt ganz neu auf. Auch bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit.

OFT WIRD VON DER KRAFT DER BERÜHRUNG GESPROCHEN…

Anna-Lena: Ein guter Punkt. Allein eine Umarmung oder eine Handmassage sind sehr wohltuend. Manche älteren Menschen suchen körperliche Nähe und möchten Kuscheln. Und andere sehnen sich nach sexuellem Kontakt. Alles menschlich, alles normal. Dabei erleben wir im Alter eine Verschiebung vom Geschlechtsverkehr hin zu anderen zärtlichen sexuellen Kontakten.

IN EURER SENIORENEINRICHTUNG WIRD ALSO INTIMITÄT NICHT AUSGEKLAMMERT?

Anna-Lena: Nein, denn wir sehen den Menschen ganzheitlich. Für ihn können Petting, Geschlechtsverkehr oder genitale Selbstbefriedigung auch noch im Alter dazugehören. Aber, wer seine Wünsche zeigt, zeigt sich verletzlich, deshalb gehen wir mit den sexuellen Bedürfnissen sehr diskret, verständnisvoll und mit Feingefühl um.

WIE KANN SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG IM PFLEGEHEIM GELEBT WERDEN?

Anna-Lena: Ein Pflegeheim ist ein Lebensort und das Zuhause der älteren Menschen. Deshalb steht ihnen ein angemessenes Maß an Privatsphäre und Diskretion zu, um ihre Neigungen und Wünsche weitestgehend leben zu können. Deshalb setzt ein vorurteilsfreier Umgang mit sexuellem Verlangen Schulungen für Mitabreitende, eine Kultur der Achtsamkeit, Kommunikation und Freiräume voraus.

ZU WELCHE INTIMEN MOMENTEN KANN ES IM PFLEGEHEIM KOMMEN?

Anna-Lena:Äußert ein Bewohner den Wunsch, von einer Dame für erotische Massagen oder weitergehende intime Dienstleistungen gegen Bezahlung besucht zu werden, unterstützen wir bei der Kontaktaufnahme zu entsprechend erfahrenen Begleiterinnen, bereiten das Zimmer vor, helfen bei der Körperpflege und ermöglichen eine ungestörte Zweisamkeit.“

Früher wurden wir auch mal gebeten, Magazine vom Kiosk mitzubringen. Heute werden Videos auf dem Handy angeschaut, was für die Menschen viel diskreter ist. Es passiert auch mal, dass wir in ein Bewohnerzimmer kommen und jemand sich gerade berührt. Aber niemand soll sich ertappt fühlen. Ein intimer Moment kann auch ungewollt bei der Körperpflege entstehen und wir haben auch schon erlebt, dass Menschen sich hier begegnen und ineinander verlieben.

WELCHE HERAUSFORDERUNG BRINGT SEXUALITÄT BEI DEMENZ?

Anna-Lena: Im Verlauf einer Demenzerkrankung tritt eine sexuelle Enthemmung auf, weil gesellschaftliche Regeln vergessen sind oder ein Medikament enthemmen kann. Dann kann es beispielsweise vorkommen, dass sich ein an Demenz erkrankter Mann oder eine Frau in Anwesenheit von anderen Menschen selbst befriedigt. Dann reagieren wir professionell, denn ein enthemmtes Sexualverhalten kann für die Mitbewohnenden herausfordernd sein.

KOMMT ES AUCH ZU FEHLINTERPRETATIONEN VON SITUATIONEN?

Anna-Lena: Die Gefahr besteht natürlich – bei Mitbewohnenden, Mitarbeitenden und Angehörigen gleichermaßen. Eine offene Hose beispielsweise kann ein einfaches Zeichen für Harndrang sein, die Intimpflege kann als sexuelle Annäherung falsch gedeutet werden oder ein verwirrter Bewohner verwechselt die Mitarbeiterin mit seiner Ehefrau.

WIE GELINGT IN IHRER EINRICHTUNG EIN TOLERANTER UMGANG MIT ALTERSSEXUALITÄT?

Anna-Lena: Früher wurden Pornohefte versteckt, getratscht und getuschelt und damit eine Auseinandersetzung mit dem Thema vermieden. Dabei sind sexuelle Wünsche etwas ganz Normales und die Erfüllung der Grundbedürfnisse verständlich. Außerdem ist es nicht so, dass es ständig zu sexuellen Handlungen kommt. Vielmehr ist es bei älteren Menschen so, dass sie sich gerne küssen, umarmen und Händchen halten, und das es gelegentlich mal zu Petting, Masturbation und Geschlechtsverkehr kommt. Um das auszuleben, ermöglichen wir den Pflegebedürftigen ihre Intim- und Privatsphäre, sind diskret und sensibel.

WIE STEHEN IHRE MITARBEITENDEN ZU DEM TEHMA SEXUALITÄT?

Anna-Lena: Pflegende sind „Berufsberührer“. Nur wenige von ihnen empfinden Sexualität und Blöße als schamhaft. Und wir dürfen nicht vergessen, dass auch Pflegebedürftige Scham und Schutzlosigkeit empfinden können. Eine akzeptierende Grundhaltung im Umgang mit Alterssexualität ist deshalb Voraussetzung für eine ganzheitliche Pflege und Betreuung.

WAS IST EIGENTLICH ERLAUBT, WAS IST VERBOTEN?

Anna-Lena: Die Weltgesundheitsorganisation versteht Sexualität als ein menschliches Grundbedürfnis, auch mit Einzug in eine Senioreneinrichtung. Auch Heimgesetze sehen ausdrücklich vor, dass sexuelle Selbstbestimmung durch die Einrichtungen zu ermöglichen ist. Während das Strafrecht verstärkt den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung vorsieht.

Das Recht, die eigene Sexualität auszuleben, stößt dort an Grenzen, wo andere Menschen belästigt oder bedrängt werden. Darum schaffen wir einerseits Freiräume, um die positiven Seiten von Sexualität zu leben, als auch Schutzräume, wo sie gebraucht werden.

APROPOS SCHUTZ. WIE STEHT ES UM DEN SCHUTZ DER MITARBEITENDEN?

Anna-Lena: Ein wichtiger Punkt. Denn einerseits stehen Mitarbeitende vor der Aufgabe, eine gute Balance zwischen professioneller Distanz und persönlicher Zugewandtheit zu finden. Gleichzeitig müssen sie ein gutes menschliches Gespür für das entwickeln, was dem Menschen wichtig ist oder was seine Grundbedürfnisse sind.

Und andererseits können sie zu Opfern von sexuellen Übergriffen durch Pflegebedürftige werden. Dann haben Mitarbeitende das Recht sich abzugrenzen und besprechen das unangemessene Verhalten im Team. Dadurch können wir mögliche Auslöser und Ursachen identifizieren und unsere Lösungsideen danach ausrichten.

DIE SEXUALITÄT ÄLTERER MENSCHEN SOLLTE ALSO NICHT LÄNGER TABU SEIN. WAS WÜNSCHEN SIE SICH FÜR DIE ZUKUNFT?

Anna-Lena: Die Frage, wie ältere und pflegebedürftige Menschen ihre Sexualität leben und wie Mitarbeitende in Einrichtungen damit umgehen können, bleibt noch oft unbeachtet. Deshalb wünsche ich mir einen verständnisvolleren und freieren Umgang mit Alterssexualität, weil Berührung ein Grundbedürfnis ist. Bereits ein Säugling braucht Körperkontakt, sonst verkümmert er. Das ist bei älteren Menschen nicht anders. Denn Berührungen sind in jeder Lebensphase heilsam.

Wir danken Anna-Lena Hinck für den Einblick und ihren offenen Umgang mit Sexualität im Pflegeheim. Viele ältere und pflegebedürftige Menschen haben ein großes Berührungsdefizit. Ihre Bedürfnisse zeigen, wie wichtig es ist, unter den Mitarbeitenden eine Kultur des Dialogs über das Thema Sexualität zu etablieren – für einen offeneren Umgang mit Alterssexualität.

 Zitate:

 74: „Ich nehme mich so an, wie ich bin: Alt, faltig und gebrechlich. Darum ist es wichtig, nicht nur auf Äußerlichkeiten zu schauen, sondern auf das Innenleben.“

83: „Attraktiv war ich nie. Aber ich fühle mich pudelwohl, denn Flirten und begehrt zu werden macht mich schöner.“

84: „Das die jungen immer glauben, dass wir keine Lust mehr haben, ist völliger Blödsinn. Ich genieße, was noch geht.“

68: „Wenn man Sex mag, ist es auch in unserem Alter noch schön. Anders, aber schön.“

85: „Sexualität ist eine Sache der Reife, und des Alters.“

76: „Was die Liebe betrifft, kann ich den jungen Leuten nur Mut machen. Die Freude daran hört nicht auf und kann sogar noch besser werden.“

79: „In Wirklichkeit kann das hohe Alter ebenso erfüllend sein, wenn nicht sogar noch bereichernder, besonders in Bezug auf Intimität.“

81: „Einer attraktiven Mitachtzigerin den Hof zu machen, ihr die Hand zu küssen und sie zum Tanz aufzufordern, was gibt es Schöneres. Dann vergesse ich Pillen und Schmerzen und bin ein glücklicher alter Mann.“